Performance auf dem Zenit | Chromosom xx
Nun sag, wie hast du’s mit…? Chromosom xx stellt unbequeme Fragen und setzt für die Antwort auf die Erfahrung des Schwarms.
Jedes Jahr stehen ein bis zwei Produktionen auf dem Spielplan und begeistern das Publikum mit innovativem, kritischem Zugang. Meistens anders, mitunter schrill und immer mit dem Zeigefinger in der Wunde. Chromosom xx ist eines der freien Theaterkollektive, die die Salzburger Kulturszene so divergent und aufregend machen. Bio-Nerds wissen: Das X-Chromosom steht für die Bezeichnung des Geschlechtschromosoms. Das zweite X markiert das Weibliche – genau dafür steht auch Chromosom xx, das freie Ensemble: modernes, experimentelles Theater mit Fokus auf das Weibliche.
Female Empowerment: Chromosom xx
Chromosom xx wurde 2012 von Elke Hartmann und Bernadette Heidegger gegründet. „Im Vordergrund stehen aktuelle Fragen, Gesellschaftskritik und Entwicklungen im Theaterbereich mit Schwerpunkt auf weibliches Schaffen“, wie Bernadette Heidegger festhält. Das Augenmerk liegt aber nicht nur auf den Stücken zeitgenössischer Autor*innen und performativem Schaffen, sondern auch darauf, als Spielleiter*innen, Dramaturg*innen und Bühnenbildner*innen vor allem auf Frauen zu setzen. Überhaupt wird Zusammenarbeit großgeschrieben. „Bei Chromosom xx spielt kollektives Arbeiten eine zentrale Rolle; das Aktivieren einer Intelligenz und Kreativität der Vielen und eine Verabschiedung von allzu hierarchischen Strukturen.“
„Die Betonung einer offenen, kollektiven Struktur, die Hervorhebung weiblicher Zugangsweisen zu Themen, die aktuell-entwickelnde Arbeitsweise und damit ein extrem experimenteller Ansatz“, sind alles Charakteristika, die Chromosom xx prägen und das Ensemble so einzigartig machen. Ein weiteres spezielles Merkmal verortet Bernadette Heidegger in der „Liebe zur absurd-clownesken Groteske“. Diese amüsant-komischen Übersteigerungen eint die Stücke des Ensembles und stellt sie gleichzeitig in Analogie zu Michael Bachtins Lachkultur.
Performance in progress
Am 17. Juni war es endlich soweit. Premiere! Und was für eine – nachdem die eigentliche Uraufführung von RECHT UND ORDNUNG abgesagt werden musste, legte das Ensemble ein Kreativitätsscherflein nach. Am 17. Juni streamte die ARGEkultur das kreative Resultat, eine Videopremiere also. Das Besondere daran: „Vor Corona sollte ein performatives Verhandeln von Ordnungsprinzipien coram Publikum stattfinden. Ein Hinterfragen von Regeln und Gesetzen, von Vorstellungen, die in unseren Köpfen herrschen… eigentlich ein demokratischer Prozess mit Mitteln der Kunst“, sagt Bernadette Heidegger.
„Während Corona: Das aktuelle Umbauen der Performance auf die derzeitigen Geschehnisse von Tag zu Tag.“ Die Schwierigkeit lag vor allem im Probenprozess begründet. „Durch die Maßnahmen und Grenzschließungen war die Gruppe praktisch getrennt. Ein virtuelles Problem quasi. Aber auch eine interessante Herausforderung“, wie die Regisseurin festhält.
Ein Austausch der Performance stand dabei nie zur Debatte. „Es gab ja noch gar kein Stück! Da es sich um eine Stückentwicklung beziehungsweise Performance handelt, war diese zum Zeitpunkt des Beginns der Krise noch in der ersten Phase der Entwicklung. Und gerade das Thema Recht und Ordnung war durch den Eingriff in die Grundrechte geradezu modellhaft aktuell. Der Live-Stream ist ja auch nur die vorläufige Lösung. Im Herbst ist das Stück dann auch live, mit realem Publikum in der ARGEkultur Salzburg zu sehen.“
Die live Premiere am Herbst wird selbst für virtuelle Besucher der Videopremiere Neues zu bieten haben. „Erstens durch die Nähe und zweitens deshalb, weil das Publikum als demokratischer Teil des Ganzen begriffen wird“. Offenheit, Neugierde, Bereitschaft zur Verrückung von Erwartungshaltungen und zum Nachdenken, keine Konsumhaltung – das alles sind Eigenschaften der Rezipient*innen, die ein ganz eigenes Performance-Erleben ermöglichen und bei Chromosom xx höchst willkommen sind.
Frei Schnauze auf den Punkt gebracht
Kritisches Denken prägt das freie Theaterkollektiv. Das möchte auch darauf aufmerksam machen, was der Shutdown für die freien Künstler*innen bedeutet; vor allem für jene, die nicht dem Mainstream oder der etablierten Szene angehören, wie Bernadette Heidegger betont. „Das Bewusstsein darüber, unter welchen prekären Bedingungen bei hohen künstlerischem und innovativem Niveau oft in der freien Szene gearbeitet wird, ist werde dem Publikum und den Geldgebern nicht richtig bewusst. Manche hat der Shutdown jetzt regelrecht in den Ruin getrieben, weil gerade freie Gruppen und Künstler*innen, kein finanzielles Auffangnetz haben und durch alle Raster fallen.“
„Die künstlerische Bedeutung der freien Szene wird oft nicht genügend honoriert. Es fehlt auch ein Verstehen darüber, dass gerade die freie Szene für Innovationen verantwortlich ist, die dann, wenn sie sich als erfolgreich zeigen, erst vom etablierten Theatern übernommen werden. Das, was oft als künstlerische Innovation an etablierten Bühnen wahrgenommen wird, ist eigentlich häufig von der freien Szene erdacht und ausprobiert worden… unter hohem persönlichen Risiko, wird aber zumeist erst wahrgenommmen, wenn es vom Mainstream übernommen wird. Und dann staunen alle. Ist dann aber eigentlich – böse gesagt – geklaut… Auch strukturell ist die freie Szene oft demokratischer und feministischer und weniger hierarchisch. Sie lebt mehr das, was die großen Theater trotz feudaler Struktur sich dann auf die Fahnen schreiben: Gerechtigkeit, Demokratie, Wahrnehmung von Minderheiten und Ähnliches.“
Fotonachweis: Chromosom xx
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