HEILIGE WILDNIS: E. Francalanci

Heilige Wildnis – Toihaus

Plastik, rüttel dich und schüttel dich…

Mit HEILIGE WILDNIS ist am Toihaus in Salzburg jeder Spieltag ein Toiday for Future. Hölderlins „Tinian“ als Inspiration für einen Wink mit dem Zaunpfahl und eine Mahnung zur Nachhaltigkeit.

Schon mal von Tinian gehört? Vermutlich nein. Vielleicht von Friedrich Hölderlin? Vermutlich ja. Beides hängt zusammen und führte jetzt zu dem Stück, mit das Toihaus Theater seine neue Spielzeit einläutet: HEILIGE WILDNIS. Tinian ist eigentlich Prominenz. Bereits Rousseau widmete sich dem Eiland nördlich der Marianen, HEILIGE WILDNIS: E. Francalancidas als Thema bei den Aufklärern im 18. Jahrhundert dank eines Reiseberichts von Lord Anson ziemlich en vogue war. – Wer geografisch genau so begabt ist wie ich und deshalb nur Bahnhof versteht, die Marianen befinden sich zwischen den Philippinen und Papua-Neuguinea. Heureka! – Dieses idyllische Flecken Insel blickt auf eine bewegte Vergangenheit zurück.

Lord Anson beschrieb es als paradiesisch; unbewohnt, ein von Menschenhand angelegter Pflanzengarten. In seiner Euphorie vergaß der britische Admiral aber ganz die katastrophale Entvölkerung zu erwähnen, der die ursprünglichen Bewohner 50 Jahre zuvor zum Opfer gefallen waren. Rousseaus Gedächtnis war da ausgeprägter; bei ihm schwang der Topos der von europäischer Hand zerstörten Unschuld mit. An Jean-Jacques Rousseau wiederum orientierte sich Friedrich Hölderin, übernahm das Tinian-Motiv und baute daraus sein gleichnamiges Hymnen-Fragment, abermals ohne konkreten Hinweis auf die düstere Vorgeschichte.

Literarische Stille Post

Von den spanischen Missionaren über Lord Anson, Rousseau und Hölderlin ins Toihaus. Das borgte sich für den Titel auch gleich die zweite Strophe aus. „Süß ists, zu irren/ In heiliger Wildnis“. HEILIGE WILDNIS: E. Francalanci, C. BöhnischDas hier so gar nichts wirklich süß ist, wird rasch deutlich. Regie und Dramaturgie scheinen eher Richtung Rousseau zu tendieren, was die traumatische Vergangenheit von Tinian anbelangt (Regie: Cornelia Böhnisch, Katharina Schrott, Dramaturgie: Felicitas Biller). Die Entvölkerung ist präsent, der düstere Charakter allgegenwärtig, wenn das Spiel ruhig und mit bedrohlicher musikalischer Untermalung ins Rollen kommt. Wobei, von Rollen kann hier gar nicht die Rede sein. Im Gegenteil, HEILIGE WILDNIS nimmt sich alle Zeit der Welt.

Die erste Performerin (Elena Francalanci) sitzt minutenlang auf der Bühne und fixiert mit starrem Blick das Publikum. Der ist tatsächlich von Wildnis geprägt und kreiert den Eindruck, als träfen hier und jetzt die spanischen Missionare auf die Eingeborene. Dass Elena Francalanci in ihrer Rolle jede*n Zuschauer*in einzeln anblickt, verstärkt dieses intensive Moment und drängt das Publikum in die Rolle der Besatzer. Theater mit gefühlter Partizipation.

Seherdichtung am Toihaus

Nach und nach weitet die Tänzerin ihren eingangs starren Radius aus. Der Vorhang öffnet sich, Licht hellt die düstere Stimmung auf und Elena Francalanci tastet sich an den Schein heran. HEILIGE WILDNIS: C. Böhnisch, E. FrancalanciEin Erkunden und Aufbrechen in eine neue Welt, die ein leeres Versprechen darstellt. Auf der Bühne befindet sich ein Fluss; naja, eher ein Rinnsal, das aus leeren Plastikhüllen und einem alten Auspuff besteht und effektiv leckt (Bühne & Kostüm: Paul Horn). Kombiniert mit den zahlreichen Plastikvorhängen, denen sogar eine eigene ‚Choreografie‘ gewidmet ist, entsteht ein gelungener Querverweis auf die Gegenwart und aktuelle Themen wie Klimawandel und Umweltschutz. Hölderlin als „Seherdichter“, die HEILIGE WILDNIS als Seherdichtung. In diese Kerbe schlägt auch, wenn die beiden Tänzerinnen Elena Francalanci und Cornelia Böhnisch mit einem Unterrock aus Plastikmüll wiederkehren. Ein Tanz, der zu einer Absage an die Zeit oszilliert und gleichzeitig Mahnung zu Einhalt darstellt.

Toihaus for Future

Friedrich Hölderlin glaubte an die Immanenz des Göttlichen in der Natur und versetzte dadurch den Begriff des Heiligen ins Diesseits. Dieses Heilige wird am Toihaus artifiziell produziert und künstlerisch hinterfragt. Dabei verschmelzen KunstHEILIGE WILDNIS: G. Plaichinger und Natur, wenn die Performerinnen auf der Bühne das Fließen des Rinnsals simulieren. Die beiden verknoten sich dabei immer mehr ineinander und das einigermaßen verträgliche Glucksen wandelt sich in lautes Stöhnen und enthemmtes Schreien, die nichts Gutes verheißen und gleichzeitig die Zukunft und die Vergangenheit tragen. Begleitet und verdoppelt durch die Musik von Jan Leitner und Gudrun Plaichinger. Letztere wandelt unauffällig mit einer Geige über die Bühne und wird selbst zur Performerin (Musikdramaturgie: Marius Schebella).

Wenn Jan Leitner und Gudrun Plaichinger Äste im Dunkeln brechen, klingt das wie die Geräuschkulisse eines Waldbrands. Die Hände von Cornelia Böhnisch werden hinter dem Plastikvorhang zu den Händen von Ertrinkenden im Plastikmüll. Mit einfachen Mitteln entstehen großartige Eindrücke und mannigfaltige Bilder. Gleichzeitig ist nicht alles Untergang und Düsternis. Cornelia Böhnisch mit futuristischer Silberkugel auf dem Kopf ist so ein Fall. Ihre Kopfbedeckung sieht aus, als stamme sie direkt aus einem B-Movie der Zukunft. Mit kleinen Schritten tastet sie sich scheinbar tollpatschig damit voran. Als sie dann auch noch mehrmals hoffnungslos versucht, ihn zu verstecken, dann birgt das sehr viel Komik und lockert HEILIGE WILDNIS auf. Die Message ist trotzdem eindeutig. Fridays for Future gibt es jetzt auch am Toihaus. Zumindest am Tag der Premiere ist es tatsächlich auch ein Freitag. Das Programm mahnt aber auch wunderbar an jedem anderen Wochentag zu Einhalt und Besinnung: Toidays for Future.

 

Fotonachweis: Ela Grieshaber

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