Ich will noch nicht gehen | kollektiv Kollinski

Ich will noch nicht gehen – kollektiv Kollinski

SAG BEIM ABSCHIED LAUT SERVUS.

Memento Mori: Kaum ein Stück thematisiert die eigene Sterblichkeit so offen und gleichzeitig verrätselt schön wie ICH WILL NOCH NICHT GEHEN des kollektiv Kollinski.

Als der Tod sich die junge Frau des Ackermanns holt, ist der extrem wütend. Was sich der Tod eigentlich einbilde, so vor ihrer Zeit anzutanzen?! Die beiden geraten in Streit, ein Wort gibt das andere und sie würden vermutlich immer noch debattieren, wenn nicht Gott irgendwann ein Machtwort gesprochen hätte. Der Brandner Kaspar geht die eigene Sterblichkeit ein paar hundert Jahre später schon merklich schlauer an: Er trinkt den Tod einfach still und heimlich unter den Tisch – seinem Los entkommt er allerdings genauso wenig wie die Frau des Ackermanns und  alle Totentanz-Motive auf einem Haufen.

Der Mensch und der Tod, das ist so eine Sache, die bis heute im Widerstreit liegt. Alle wollen ewig leben und dann irgendwann, am Zenit des glücklichen Daseins, plötzlich selig und zufrieden hinüberschlummern. Hier war ich Mensch, hier durfte ich’s sein. Was so idyllisch anmutet, hat sogar einen Namen, der „grüne Tod“. ICH WILL NOCH NICHT GEHEN des kollektiv Kollinski beschäftigt sich mit ihm und seinen blauen und roten Facetten.

In aller Plot-Kürze

Die Schauspielerin Susanne Szameit steht schon ihr ganzes Leben auf der Bühne. Mit 70 zieht sie zufrieden Resümee und schwelgt in Erinnerungen. Ebenfalls noch nicht gehen wollte Bashir Khordaji, der vor drei Jahren plötzlich seine syrische Heimat verlassen musste. Und dann sind da noch diese anderen Frauen, die der Tod viel zu früh zu sich bat. Susanne Lipinski schlüpft in ihre Rollen und geht ein Stück ihres Weges.

Die Omama

Hand aufs Herz, fast jeder hat sich schon mit der eigenen Sterblichkeit beschäftigt. Die einen vielleicht, indem sie traurige Songs mit „den will ich auf meiner Beerdigung haben“ kommentieren. Ich will noch nicht gehen | kollektiv KollinskiDie anderen, indem sie Gedanken an Tod und Sterben zwanghaft verdrängen. Sehr offensiv beschäftigt sich das Trio des kollektiv Kollinski mit der Thematik (Konzeptidee & Organisation: Susanne Lipinski, Regie & Text: Natascha Grasser, Technik & Ausstattung: Nina Ortner, musikalischer Support & Arrangements: Gudrun Plaichinger).

Susanne Szameit rekapituliert zufrieden lächelnd die unterschiedlichsten Stationen ihrer Laufbahn. Sogar einmal „Probe Liegen“ im Sarg kann das glückliche Idyll nicht trüben. Immer wieder unterbricht sie ihre Erzählungen für dunkelgraue Lieder von Ludwig Hirsch. Mit der Austropop-Legende ging sie einst auf die Schule, plaudert sie aus dem Nähkästchen. Autobiografisches Theater wird groß geschrieben. Künstlerisch verfremdet bringt Szameit ihr Leben auf die Bühne. Der Coup gelingt; immer ist die Schauspielerin eins mit ihrer Rolle. Fiktion von Realität zu trennen? Ein Ding der Unmöglichkeit. Der Lebensgenuss wird mit einem, zwei oder drei Gläschen Wein begossen.

Next stop: Syrien

Für die musikalische Untermalung ist aber auch Bashir Khordaji zuständig. Als Bashir Kordaji schlüpft auch er in die eigene Autobigrafie und ist untrennbar mit ihr verknüpft. Das verstärkt den besonderen Charakter von ICH WILL NOCH NICHT GEHEN. Schauspieler*innen sind ihre Rollen und vice versa. Der Kopf beginnt beim Entdröseln zu schwirren, aber für zu langes Sinnieren bleibt im Stück ohnedies keine Zeit. Denn Khordaji bringt Syrien bruchstückhaft in Andeutungen, Aussagen und Gesang auf die Bühne. Auch Flucht bedeutet Abschied nehmen; Abschied von Familie, Freunden und dem gewohnten Leben. Nostalgisch erinnert sich der reale, fiktive Bashir Khordaji zurück. Wirft entschlossen den Schlüssel zu früher weg, nur um plötzlich panisch danach zu suchen. Momente, die berühren.

Memento Mori

Wenn Susanne Szameit und Bashir Khordaji die Wahrnehmung mit Realismus ein Schnippchen schlagen und das Abschieds-Thema genau dadurch intensivieren, so setzt Susanne Lipinskis Figur auf subtilen Humor. Als Weißclown tappst sie mit einer Melodica um den Hals durch das Geschehen. Das Haar wirr vom Kopf abstehend, die Gesten zwischen den Bildern immer etwas zuckend, scheint sie zerrissen zwischen dem Hier und Jetzt und dem Gestern. Lipinskis Figur ist das Sprachrohr der viel zu früh gegangenen Frauen, sie bietet ihnen eine letzte Bühne. Das weiße Gesicht mit den roten Wangen ist ihr großer Augenblick: Noch einmal zurück im Leben sinnieren die unterschiedlichen Figuren darüber, was wohl gewesen wäre, wenn…  Mit viel Empathie und sanfter Komik ermöglicht ihnen Lipinski einen letzten Auftritt, eine letzte Möglichkeit, noch einmal teilzuhaben an dem, was wir Leben nennen. Ich will noch nicht gehen | kollektiv KollinskiDas Resultat sind berührend schöne Momente.

„I did it my way“

ICH WILL NOCH NICHT GEHEN ist kein trauriges Resümee, sondern eine funkelnde, hungrige Ode an das Leben: Ein zufriedenes „schön war’s!“ und hoffnungsvolles „hallo Leben!“, ein rebellisches Aufbegehren und trotziges „jetzt erst recht!“. Das macht unglaublich viel Laune auf mehr: mehr Leben, mehr Freude und mehr Genießen. Denn dass das Leben nicht endlich ist, führt ICH WILL NOCH NICHT GEHEN mit aller Deutlichkeit vor Augen. Ob wir jetzt allerdings einen grünen oder rote Tod sterben oder doch neutrales Blau präferieren, liegt zum Gros auch in unserer Hand – dafür müssen wir keine hitzigen Debatten mit dem Tod führen, sondern einfach zu Lebzeiten an unserer Zufriedenheit schrauben. Memento Mori, sei dir der eigenen Sterblichkeit bewusst – kaum ein Stück thematisiert das so offen und gleichzeitig verrätselt schön wie ICH WILL NOCH NICHT GEHEN.

 

Fotonachweis: kollektiv Kollinski

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