Niemand – Schauspielhaus Salzburg

Mietshaus der gescheiterten Existenzen

Nach Wien, Linz und Berlin premiert Ödön von Horváths verschollenes Frühwerk NIEMAND jetzt auch am Schauspielhaus Salzburg. Ein Pflichttermin, nicht nur für Spürnasen und literarisch Angefixte.

Niemand macht Niemand mehr Ehre als die Rezeptionsgeschichte von „Niemand“ – nicht einmal Odysseus. Jahrelang existierte das Frühwerk des erst 23jährigen Ödön von Horváths nur unter dem Radar der Aufmerksamkeit – als kleine Randbemerkung seines jüngeren Bruder Lajos. Schuld daran trugen romanhafte Umstände: eine betrügerische Verlagspleite und zwei Auktionen. Bei der ersten Mitte der Neunziger verschwand das unbekannte Typoskript unbemerkt in einem Privathaus und ward bis 2015 nicht mehr gesehen. Dann tauchte es plötzlich bei einer Auktion in Berlin auf. Dort wurde endlich auch sein Wert erkannt – und nach etwaigem Gerangel um die Uraufführungsrechte feierte das Stück ein Jahr später am Wiener Volkstheater seinen Einstand in die Theaterwelt. Angeblich weil ihm dessen Intendant Texttreue zusicherte – eigentlich Voraussetzung für eine Tragödie, die noch niemand kannte…

Scherben bringen kein Glück

Auf Wien folgte Linz, dann Berlin, jetzt Salzburg. Das Schauspielhaus holte das alte, junge NIEMAND mit nur 94 Jahren Verspätung in die Landeshauptstadt. Rudolf Frey inszenierte das gesellschaftskritische Volksstück als futuristische Tragödie mit Anker im Vergangenen (Bühne: Vincent Mesnaritsch, Kostüme: Elke Gattinger, Dramaturgie: Christoph Batscheider). Dafür lässt er das Ensemble als geklonte Varianten ihrer selbst antreten. Jede Figur von Horváth verdoppelt und wiederholt sich. Darin begründet sich auch zum Teil der tragische Charakter des anspielungsfreudigen Textes. Die Hoffnungen und Träume der beschädigten Existenzen werden ein ums andere Mal von der tristen Realität der Wirtschaftskrise überwältigt. Das weibliche Personal tritt im gleichen altmodischen Blümchenkleid mit keuschem blauen Jäckchen auf – alleine, enthaltsam ist hier (fast) keine. Dafür sehen sich alle unglaublich ähnlich. Dabei legt Rudolf Frey sehr viel Wert auf die kleinen Details. Wenn die Hure Gilda Amour (Susanne Wende abgefeimt und illusionslos, später blechern, automatisiert) einen Freier in ihr Zimmer lockt, dann wechselt der Schürzen-Knoten von ‚unverheiratet‘ auf ‚vergeben‘. Wenn sie die unschuldige Ursula (Kristina Kahlert mit großer Gefühlspalette – von sanft bis boshaft) in die Prostitution locken möchte, bringt sie ihr das richtige posieren bei. Überhaupt funktioniert hier viel über Zeichensprache, auch das erotische Moment – wer die lockeren Frauen erwähnt, dem genügt eine subtile Handbewegung nach oben oder eine angedeutete Blusen-Öffnung. Ursula büßt in diesem Treppenhaus der verlorenen Sehnsüchte relativ rasch ihre sympathische Naivität ein. Und aus Kellnerinnen werden Prostituierte, denen sich Nachfolgerinnen anschließen, die früher oder später ebenfalls in der Prostitution landen werden (Juliane Schwabes Kellnerin als bestes Beispiel) – dafür genügt schon ein zerbrochener Krug. Das erinnert nicht nur an Kleist, sondern auch an die Humpen im Müllner Bräu. (Falls dort wer auf der Suche nach Bierkrügen sein sollte – überpinselte Varianten gibt es aktuell zuhauf im Schauspielhaus…). Scherben kündigen den Fall der integren Fräulein-Existenzen bei NIEMAND an und der ominöse schwarze Wagen auf der Videoleiste oszilliert zum modernen Totentanz-Sujet. Da werden die vier couragierten Sargträger als ironisches Ornat zu Boten der gesellschaftlichen Destruktion (Olaf Salzer, Frederic Soltow, Lukas Bischof und Simon Jaritz).

Das Schicksal

Das Tableau an gescheiterten Existenzen scheint unerschöpflich. Jonas Breitstadt mimt den orthodoxen Juden Klein, zwar mit Tallit, aber ohne Kippa. Wunderbar fantastisch wird es, wenn Klein zum Hochzeitsmarsch ansetzt und verträumt auf allem spielt, nur nicht auf dem eigentlichen Instrument. Grausam und aggressiv hingegen Gildas Zuhälter Wladimir (maliziös Bülent Özdil), dessen geklonte Variante (Frederic Soltow) an technisierter Boshaftigkeit laboriert. Ein ähnliches Schicksal ereilt die zweite Gilda (Juliane Schwabe), die ebenfalls erschreckend automatisiert erscheint. Futuristische Anleihen gewinnen Kontur Währenddessen leitet der zweite Lehmann (übermütig-abgebrüht, mit kokettem Hüftschwung Olaf Salzer) gezielt in die Irre und entpuppen sich die beiden Detektive als durchtriebene Schnüffler (tatsächlich tobt Frederic Soltow hündisch über die Bühne, während Lukas Bischof den gefährlich stillen ‚Bad Cop‘ mimt). Am Fall der Fräuleins beteiligt – der große Wirt (augengewandt Marcus Marotte), der sie mit gezieltem Blick und schwarzen Schlächter-Handschuhen in die Prostitution verdammt. Theo Helm begeistert indes als hadernder Krüppel Fürchtegott Lehmann. Konsequent humpelt er mit fahler Miene über die Bühne und schleppt die lahmen Beine wirkungsvoll durch Klappen, selbst wenn im Bild Dunkelheit herrscht. Dass Lehmanns unerwartete Hochzeit kein Anlass zur Freude sein wird, deutet bereits der schwarze Brautschleier Ursulas an. Es ist der traurige Untergang eines vom Mitleid unterjochten, den selbst die Liebe nicht rettet. Als der verschollene Bruder Kasper (Simon Jaritz) auftaucht, nimmt die Tragödie ihren Lauf. Wieder dominiert in der NIEMAND-Inszenierung die Bildsprache; Kasper lässt sich einem Einbrecher gleich im Treppenhaus hinab. Und tatsächlich, einst klaute er dem verkrüppelten Bruder ohne Reue die Puppe, jetzt bedient er sich ungeniert an der frisch angetrauten Ehefrau.

Linguistische Beobachtungen

Die Sprache von NIEMAND ist spannend. Der spätere Horváth ist bereits zu erkennen, aber noch nicht gänzlich fassbar. Auf Soziolekt wird verzichtet, Ironisierungen sind rar gesägt; stakkatoartig reiht sich stattdessen die verkürzte Syntax aneinander und prasselt mit Aphorismen und Discoklängen auf das Publikum nieder. Dabei spielt die Inszenierung nicht nur mit Sprache, sondern auch mit dem Bühnenbild (Vincent Mesnaritsch). Naturalistisch? War vielleicht bei der letzten Produktion. Die expressionistisch-fantastische Note des Horváth’schen Spätzünders wird in Rudolf Freys Arbeit akzentuiert. Dafür oszilliert das Hochhaus zum Skatepark mit jeder Menge Klapptüren. Mühelos eignet sich das Ensemble auch ohne Skateboards ihr  fantastisches Bühnen-Terrain an und schlüpft behänd durch Türen und Fenster. Die Verzweiflung und Hoffnung wird emotional nach außen getragen; voller Energie und Lebenswillen rennen die Protagonisten*innen gegen die Banden und damit ihre sozialen Verhältnisse an. Selbstverständlich prallen sie hart an ihnen ab. Immer und immer wieder, bis sie resignieren, resignieren müssen. Dass dabei sogar die eine oder andere Wand ins Wackeln gerät, scheint eine logische Konsequenz – und schreit nach blauen Flecken.

Sieben Bilder für sieben Tage

Nach sieben Bildern und sieben Tagen die invertierte, biblische Erleuchtung: Alles ist schlecht – und Ausweg aus dem Schlamassel, das sich Leben nennt, scheint ohnehin nicht möglich. Gut, das ist nicht änderbar. Aber einen kleinen Trost stellt die NIEMAND-Inszenierung dar – die Rezeption des jungen-alten Horváth-Stücks darf getrost mit einem „erledigt!“ von der persönlichen ‚Bucket List‘ gestrichen werden.

 

 

Fotonachweis: Jan Friese

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