Sea/Mehr Emma Marnoch Influx

Sea/Mehr – Kooperation INFLUX und Clownfabrik

Clowneskes Spiel mit der Moral: SEA/MEHR von INFLUX und Clownfabrik

Corona zum Trotz und jetzt erst recht findet die Premiere von SEA/MEHR online statt. Ein Grimm(iges) Mode-Märchen auf Konsumsucht und westlichen Größenwahn.

Dass die westliche Welt kleidungstechnisch im Überfluss schwimmt, ist kein Geheimnis. Shirts um 5 Euro und Jeans für 10 Euro wachsen schließlich nicht auf Bäumen. Tatsächlich landen 75.000 Tonnen davon pro Jahr im Müll. Doch auf wessen Rücken wird diese Textilflut und der omnipräsente Drang zu Billigware ausgetragen, wer profitiert davon? Genau dieser und ähnlichen Fragen geht SEA/MEHR auf den Grund und setzt dafür auf das demaskierende Clowneske in Verbindung mit Performance (Regie & Choreografie: Nayana Keshava Bhat).

Fast wäre eine weitere Premiere Opfer von Corona und Pandemie-Management geworden. Aber eben nur fast, denn SEA/MEHR, die Koproduktion von INFLUX und Clownfabrik, fand trotz Lockdown auf der Bühne des Toihaus statt. Selbstverständlich virtuell. Quasi live gestreamt. Die Technik von FS1 machte es möglich, dass das Theater ins Wohnzimmer kommen konnte. Übrigens sehr passend, weil sich in den eigenen vier Wänden auch der Kleiderschrank befindet, wo sich meistens die Corpora Delicti türmen.SeaMehr Emma Marnoch Influx

Kleidung gewordenes Mahnmal der fehlenden Menschlichkeit

Die Bühne ist übersät mit Kleidungsstücken und erinnert an Treibgut auf schwarzem Sand. Dazwischen eine Frau (Julia Leckner), die minutenlang etwas ratlos durch dieses Textil-Watt stapft, ehe sie beginnt, die Teile zusammenzutragen. Jedes einzelne wird dabei andächtig gefaltet. Slow Fashion wie sie sein sollte, nur halt meistens nicht ist, weil sie dann nicht so günstig wäre. Das kümmert die Performerin aber wenig, die am Ende der ersten Szene einen Menschen aus Kleidung geformt haben wird. Der bekommt dann auch noch selbst Kleidungsstücke verpasst und sieht aus wie eine dieser weißen Silhouetten, die bei Fernseh-Krimis die Position der Leiche markieren. Eine gelungene Analogie, schließlich handelt es sich hier ebenfalls um einen Tatort, an das dieses Mode gewordene Statement still und starr erinnert.

Clownesker Mund tut Wahrheit kund

Wunderbar reduziert setzen die beiden Clowns Ursula Schwarz und Ortwin Probst auf Mimik und Gestik. Gesprochen wird wenig bis gar nicht, was der Handlung etwas eminent Eindrückliches verleiht. Klug und pointiert tastet sich SEA/MEHR allein durch Körperlichkeit und Geräusche an das Unfassbare heran. Die Clowns werden zu Bindegliedern, die das Einfache mit dem Komplexen koppeln, und ganz in Tradition der Hofnarren die Wahrheit auch ausspielen dürfen. Als die beiden Figuren den Menschen aus Textil wiederzubeleben versuchen, mag das lustig anmuten, birgt aber gleichzeitig die tragische Note von 2013. Damals stürzte in Bangladesch die Kleiderfabrik Rana Plaza ein. Viele Arbeiter starben, andere überlebten zwar, verloren aber Gliedmaßen. SEA/MEHR ist also vielmehr als eine weitere Premiere, sie ist ein Performance gewordenes Mahnmal der (Un)Menschlichkeit. Die Namen der Unternehmen, die bei Rana Plaza produzieren ließen, werden mit ruhiger, sachlicher Stimme von Julia Leckner vorgetragen. Ein ums andere Mal. Der eine oder andere wird hängen bleiben.Sea/Mehr Emma Marnoch Influx

Gelebter Narzissmus in SEA/MEHR

Wenn Geld die Welt regiert, dann ist Mode ihre emsige Helferin. In einer zweiten Sequenz kippt die Stimmung ins Ausgelassene. „It’s wonderful“. Hier wird mit Kleidern, Shirts und Jacken nur so um sich geworfen. Der Clown ist ganz außer sich vor Entzücken ob all der hübschen Modelle, während sich die Clownin in erster Linie selbst im Spiegel feiert. Eine sehr amüsante Szene mit einer unterkühlten Ursula Schwarz, die beim Zücken ihres Spiegels in ungeahnte Ekstase gerät. Schließlich legt ihr Ortwin Probst als Liebeserklärung einen roten Kleiderteppich zu Füßen, aber da ist die Diva schon auf halben Weg zur Tür hinaus. Es lebe der Narzissmus.

Grimm(iges) Mode-Märchen

Die letzte Episode wirkt wie ein invertiertes Märchen. Verdreht dabei schon die Figuren, mit all ihren seltsam anmutenden Auspolsterungen und opulenten Körperergänzungen. Die zuvor von Leckner angesprochenen fehlenden Gliedmaßen finden sich auf dem Kopf der weiblichen Figur. Die beiden wirken wie eine zeitgenössische Allegorie auf Frau Welt. Überfressen an Kleidung und von hässlicher Gestalt, die sich bei ihnen zwar nicht an der Rückseite, dafür an der Gesinnung manifestiert. Jetzt wird nämlich doch gesprochen und die kurzen Dialoge triefen vor Ironie und Sarkasmus. „Wenn du ohne Arbeit bist, dann hast du kein Geld“, wird da treffsicher konstatiert. Dann wird in Märchentradition mit dem Finger geschmeichelt und gelockt: „Drum‘ komm‘ geschwind“. Es wartet aber kein Knusperhäuschen im Wald oder gar ein voller Kleiderschrank. Boshaft kichernd freuen sich die modernen Hexen auf das abhängige Klientel und heizen bereits den Hexenofen, eine kurz darauf einstürzende Kleiderfabrik.

 

Fotonachweis: © Emma Marnoch

Artikel zum Download in PDF-Format

Facebooktwitterredditpinterestlinkedinmailby feather

2 Kommentare

  1. Mit SEA/MEHR ist ein grandioses Stück gelungen!!!!! DANKE für dieses Online – Theatererlebnis!

    Eine Anmerkung zur Kritik:
    Warum der Begriff „Hexen“ am Ende der Kritik verwendet wird verstehe ich nicht. „Hexen“ ist ein Propagandabegriff aus der frühen Neuzeit. Frauen, und auch Männer, wurden mit Beginn der Neuzeit ab ca. 1500 massenhaft aus unterschiedlichen Interessenlagen heraus zu sogenannten „Hexen“ gemacht.
    Sie waren Sündenböcke, sie waren schuldlos.
    Nur grausamste Folter ließ sie sich selbst zu Hexen erklären…………..moderne Hexe was soll das sein!?

    1. Author

      Hallo Eva,
      vielen Dank für deinen Beitrag.
      Zur Kritik an meiner Kritik: Tatsächlich wurde der Hexenbegriff erstmals um 1419 herum verwendet, entstammt literarisch also dem späten Mittelalter, nicht der frühen Neuzeit. Die Anspielung auf Konrads Frau Welt war freilich davor, also Hochmittelalter und da ist ein kleiner Zeitensprung meinerseits drin. Aber darum soll es hier auch gar nicht gehen. Mir geht es vielmehr um die Märchentradition und hier ist auch die Klammer zu Konrads Text. Die Aventiure der mittelalterlichen Epik wird auch später von den Märchenautoren wieder aufgegriffen. Apropos Märchen. Bei Märchen geht es mir um die literarische Gattung. Ich dachte und denke hier an die Brüder Grimm. Ja, jetzt sind wir schon in der Romantik angekommen, aber auch genau hier – in der Literatur der Romantik ist die Verwendung meines Hexenbegriffs verortet. Nein, er ist keineswegs an die reale „Hexenverfolgung“ angelehnt, sondern an „Hänsel und Gretel“ von den Grimm Brüdern. Deshalb auch die Erwähnung von Knusperhäuschen und locken. Genau das macht die Hexe im berühmten Märchen ja auch. Das ist übrigens nur eine Assoziation meinerseits. Muss man nicht teilen, wie alles, was ich schreibe, wollte ich aber erwähnt wissen. Und nein, steht in keinerlei Korrelation zu Folter & Co. Ich hoffe, das hilft weiter und kann das Missverständnis aufklären, das der letzte Absatz offensichtlich hervorgerufen hat.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert