Plötzlich Porno!
Die Theater-Transversale in Uraufführungslaune: Am OFF feierte der junge Salzburger Kulturverein mit ANSICHTSSACHE, viel Humor und starken Bildern eine beeindruckende Premiere.
Letztes Jahr stieg am Salzburger Landestheater ein dreitägiger Komödien-Wettbewerb für Nachwuchsautoren*innen: Die Freiheit des Lachens. Einer der Teilnehmer war Ben Pascal. Der junge Salzburger Autor, Schauspieler und Komponist schrammte damals mit „Opportunities and Choices“ zwar am Sieg vorbei, ließ sich allerdings nicht beirren, sondern viel lieber inspirieren. Von der Zeit im Allgemeinen, von den Schattenseiten der Medien im Speziellen und vom Marquise de Sade im Besonderen. Genau, DEM Marquise de Sade. Für alle, die jetzt trotzdem nur Bahnhof verstehen: Das war der, nachdem Sadismus benannt ist – ja genau, DER Sadismus. (Wenn man den übrigens mit den Vorlieben Sacher-Masochs kombiniert, ist man bereits beim Sadomasochismus). Das Erstlingswerk von Ben Pascal nennt sich ANSICHTSSACHE und verbindet mit Komik, was eigentlich alles andere als amüsant ist.
In aller Plot-Kürze
Andrea und Billy arbeiten im Filmgeschäft, zumindest theoretisch. Um endlich den großen Durchbruch zu schaffen und einer finanziellen Katastrophe zu entgehen, wollen sie auf Porno umsatteln. Aber weil x-beliebige Erwachsenenfilmchen ja jeder kann, muss es schon etwas Besonderes sein: ein Live-Impro-Porno. Für den geplanten Genie-Streich laden sie zwei Bekannte als (un)freiwillige Protagonisten ein. Mit versteckter Kamera und reichlich Alkohol machen sie sich ans Werk – aber irgendwie läuft alles aus dem Ruder und plötzlich nimmt die Idee eine unerwartete Wendung.
Achterbahnfahrt der Genres
Eigentlich scheint das Thema aufgelegt: Marquise de Sade verbindet sich mit den unendlichen Möglichkeiten des Dark Nets – Social Media & Co-Kritik „Hallo!“. Ganz so einfach ist es dann aber doch nicht. Im Gegenteil, die moralische Botschaft von ANSICHTSSACHE versteckt sich viel tiefer und lauert irgendwo zwischen den locker servierten Dialogen und anspielungsreichen Pointen. Florian Eisner (Regie) schöpft dafür die humoreske Komponente des nur scheinbar oberflächlichen Sujets voll aus, bevor er sie gezielt kippt (Produktionsleitung: Benjamin Blaikner). Es sind deshalb auch höchst humorige Bilder, die den Einstieg von ANSICHTSSACHE prägen. Dazu zählt die Ausarbeitung des aberwitzigen und naiven Plans von Billy (Dominik Kaschke) und Andrea (Larissa Enzi). Stereotyp räkelt sich Andrea lasziv und gelenkig auf den Möbelstücken, während sie von ihren Porno-Visionen erzählt. Billy – ganz Mann – hat indes Mühe, seine Hormone im Zaum zu halten, und gerät dabei gehörig ins Schwitzen. Die kurzweiligen Wortgeplänkel spielen mit den diversen Geschlechter-Klischees, die das Schauspieler-Duo perfektioniert. Keine Frage, ANSICHTSSACHE beherrscht die rhetorischen Mittel mit Bravour und hat keine Scheu, sie einzusetzen. Spannend sind aber auch die Figurenzeichnungen; der scheinbar draufgängerische Billy entdeckt bald seine Schmerzensgrenze, die Dominik Kaschke wunderbar subtil in Mimik und Gestik ausführt. Währenddessen folgt Andrea ihrem inneren Marquise de Sade, dem Larissa Enzi mit erstaunlicher, aber höchst gelungener Aggressivität Ausdruck verleiht.
Divergente Masken
Das zweckmäßige Bühnenbild (Eva Praxmarer, Bühnenbau: Christian Meschtscherjakov) besteht aus improvisierten Möbelelementen, rostigen Gitterwänden sowie einschlägigen Accessoires und eröffnet gerade dadurch dunkle Welten. Die verselbstständigen sich zügig und bilden ein homogen schmuddeliges Ambiente. Währenddessen stehen Verena (Victoria Morawetz) und Sebastian (Michael Köhler) als ‚Chor‘ hinter den vergitterten Wänden und stöhnen in allen Facetten, bevor sie selbst ins Geschehen eintreten. Bieder und verklemmt scheint Verena nur im ersten Augenblick. Zögerlich lässt sie sich von Andrea einladen, in lockerer Trinkrunde taut die Schüchterne endgültig auf – und lüftet Stück für Stück ihre komplexe Maske und dunkle Seite. Ähnlich divergent ist überraschenderweise Michael Köhlers Sebastian. Der besticht durch einen nur scheinbar begrenzten Intellekt und prolliges Auftreten; zur versifften Lederjacke, Achselshirt und Goldkette grunzt er seine Antworten lieber, als sich verständlich zu artikulieren. Gleichzeitig ist da aber auch diese zweite Seite. Als sich die Option für krumme Geschäfte bietet, findet Sebastian in Rekordtempo seine Stimmbänder wieder und gibt sich erstaunlich eloquent und Technologie affin – gepaart mit seiner Gefühlskälte eine gefährliche Kombination.
Way hay and up they rises
ANSICHTSSACHE zentriert sich mit Dialog und Handlung auf das Wesentliche und punktet genau mit dieser puristischen Ausrichtung. Ihre Authentizität und Tiefgründigkeit erhält die Inszenierung aufgrund der totalen Abwesenheit von akustischem oder visuellem Schnickschnack. Das gilt auch für den ‚Soundtrack‘, der sich aus den lautmalerischen Äußerungen des Ensembles speist. Wie klug diese Klangkulisse mit der eigentlichen Handlung verwoben ist, zeigt sich bereits am omnipräsenten „Drunken Sailor“, dem irischen Arbeiterlied, das die Protagonisten*innen mit Hingabe – und irischem Einschlag – immer wieder anstimmen. Nach der ‚Plot-Lüftung‘ entpuppen sich die Lyrics als geniale Spiegelung der eigenen Handlung – egal ob Marquise de Sade oder Hit-and-Run-Fahrer.
Spätestens mit Fortschreiten von ANSICHTSSACHE ist klar: Eine flache Komödie, davon ist die Produktion meilenweit entfernt. Stattdessen verbirgt sich hinter der lockeren Fassade klug und subtil verpackte Zeitkritik, ohne dabei mit erhobenen Zeigefinger zu wackeln (das ist an diesem Punkt aber auch gar nicht mehr nötig). Dass die auch durchaus schmerzhaft sein kann, akzentuieren die bereits erwähnten starken Bildern. Die erhalten ihre Schlagkraft gerade nicht durch die Darstellung der eigentlichen Taten, sondern durch ihre wortreiche Abwesenheit. Im gleichen Tempo, wie sich Sebastian seiner Kleidung entledigt oder Andrea mit Ketten um sich schlägt, fallen auch die letzten Hemmungen. Den dramatischen Höhepunkt bildet dann – wie passend – ein Zitat aus Marquise de Sades „Justine oder vom Missgeschick der Tugend“. Da ist er also wieder und sorgt auch posthum für unangenehmes Frösteln und betretenes Schweigen. So soll Theater sein, trotz anfänglich oberflächlichem Komödien-Charakter im Innersten berühren – ANSICHTSSACHE? Nur im Titel, Chapeau!
Fotonachweis: Die Theater-Transversale
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