Theater-ecce-Luft liegt im Zirkuszelt: DER ELEFANTENMENSCH
Wie ist das eigentlich mit der menschlichen Würde? Einen Theater gewordenen Impuls bietet Theater ecce mit DER ELEFANTENMENSCH. Gelungen und zum Nachdenken anregend.
Ein deformierter Kopf, wuchernde Knochen und Geschwülste: Der Brite Joseph Merrick ist viktorianische Prominenz wider Willen. Das liegt weniger an einem unglaublichen Talent als an seiner körperlichen Disposition. Seine außerordentliche Abweichung zur Norm zog in Bann und stieß des öfteren ab, sorgte aber dafür, dass Merrick im gesellschaftlichen Abseits stand. Bernard Pomerance packte die tragische Vita in ein Bühnenstück, das nicht nur immer wieder am National Theatre in London oder am Broadway läuft, nein, auch in Salzburg schlug das Stück jetzt in einer Inszenierung von Theater ecce sein Zelt auf. Die Faszination des Anderssein ist ohne Ablaufdatum und wird mit DER ELEFANTENMENSCH bewusst zur Diskussion gestellt.
In aller Plot-Kürze
Ende des 19. Jahrhunderts entdeckte der englische Arzt Dr. Treves in den Schaubuden auf einem Londoner Jahrmarkt den stark entstellten Joseph Merrick. Seine schwere körperliche Beeinträchtigung und bühnenwirksame Geschichte gaben ihm den Beinamen „Elefantenmensch“. Dr. Treves vermittelt Joseph, der sich alsbald John Merrick nennt, an das Krankenhaus, in dem er selbst tätig ist. Damit wechselt Merrick aber nur die Bühne. Statt auf dem Jahrmarkt wird er jetzt im Hospital von der Öffentlichkeit bestaunt.
„Kommen Sie näher, treten Sie ein“
Das mit dem Zelt Aufschlagen ist wörtlich gemeint. Tatsächlich könnte das Zirkuszelt als Veranstaltungsort für die Varietätenschau der menschlichen Würde kaum besser gewählt sein. Der viktorianische Jahrmarkt und seine Kuriositäten eröffnen das Spiel in der umfunktionierten Manege. Einzig das 19. Jahrhundert ist weniger in Kulisse als in Gedankengut präsent. Wovon das Spiel profitiert. Herrlich bunt und schräg lässt sich der Reigen der seltsamen Gestalten an, die sich da auf der Bühne in mindestens genauso kreativen Kostümen tummeln (Bühne: Alois Ellmauer, Kostüme: Viktoria Semperboni, Maske: Nora Fankhauser).
Laut und temperamentvoll geht es zu, ein Sprachen-Wirrwarr, das erst einmal entdröselt werden möchte. Da hilft es nur bedingt, dass das erste Polizistenpärchen belgisch parliert (Kiristin Henkel & Josef Kocher). ELEFANTENMENSCH-Wissen ist jetzt sehr von Vorteil. Wobei, so ein bisschen Lokalkolorit ist auch wieder äußerst charmant. Auf den Cockney Regiolekt für die Londoner Kollegen wartet man zwar vergebens, aber die Wissenslücken kompensiert Live-Musiker Ripoff Raskolnikov. Im Folk-Style subsumiert der Sänger mit der markanten Stimme melancholisch und wunderschön die jeweiligen Stationen von Merrick. Kompakt verpackt er sie in eingängige Melodien, denen man noch Stunden länger zuhören könnte.
Bunte Kuriositätenschau
So bunt und schräg die Kuriositätenschau anmutet, punktet sie mit erstaunlicher Kohärenz. Hier ist nichts dem Zufall überlassen und der rote Faden nimmt peu à peu Konturen an. Da ist zum Beispiel das siamesische Zwillingspärchen (wunderbar akrobatisch und tragisch-komisch: Anna Adensamer & Pamina Milewska). Die beiden begeistern als Doppeltes Lottchen in identischen Kostümen und sich kurios komplettierenden Choreografien (Anna Adensamer). Gleichzeitig halten sie dem Doppelcharakter die Treue. Egal ob als sich balgende Zwillinge, niedliche, aber stark unterjochte Queens of Congo (im 19. Jahrhundert darf man noch politisch unkorrekt sein) oder dreibeiniges Wesen. Die beiden Akrobatinnen sind ein vorzügliches Team, das mit subtilen Seitenhieben amüsiert.
Die Mann-Frau (Salim Chreiki) taucht ebenfalls immer wieder auf. Als Anleihe an das viktorianische Zeitalter dürfte der voluminöse Reifrock fungieren, der den schrägen Charakter der Inszenierung wunderbar unterstreicht. Das Kostüm legt die ‚Bearded Lady‘ so gut wie nie ab, auch wenn sie später statt auf dem Jahrmarkt im Krankenhaus als Schwester unterhält. Zwischen die professionellen Schauspieler*innen – und das ist das Besondere am Theater ecce – mischen sich Laien-Spieler*innen mit unterschiedlichen Handicaps. Das Ensemble ergänzt sich perfekt und zeigt, dass Integration funktioniert. Die eigenen Stärken werden bewusst eingebaut und mit Augenzwinkern etwaige Schwächen gekonnt umschifft. So rast hier ein Rollstuhlfahrer über die Bühne oder bewegt sich zielsicher elegant vor und zurück, während ein anderer Neo-Schauspieler sein Weihnachtspäckchen mit formvollendeter Höflichkeit an den Herrn Direktor überreicht (pragmatisch und für finanzielle ‚Spenden‘ immer empfänglich: Gerard Es).
Romeo Parabel
Als gelungen besetzt beweist sich auch Reinhold Gerl, ELEFANTENMENSCH John Merrick. Das Elegante daran: Statt auf sichtbare Maske und Quasimodo-Anleihen setzt die Produktion von Reinhard Tritscher (Regie) auf Imagination. So beschreibt Frederick Treves die Leiden seines Patienten äußerst plastisch und dieser Eindruck bleibt. Stark hinkend und mit schwerem Gang bewegt sich Merrick über die Bühne. Den rechten Arm immer abgewinkelt, wandelt er sich vom schüchternen deformierten Patienten zum naiv-liebenswürdigen, aber hoch intellektuellen. Wie einst Platon sein Höhlengleichnis, deklamiert dieser Merrick seine Romeo Parabel. Jetzt wird’s philosophisch. Überhaupt besticht die Figur mit erstaunlicher philosophischer Affinität.
Das moralische Gewissen
Die paradigmatische Verkörperung des moralischen Gewissens ist Dr. Frederick Treves. Alexander Lughofer gibt eine großartige Variante des Arztes, der sich von Mitgefühl und wissenschaftlichem Forscherdrang leiten lässt. Damit wechselt Merrick aber nur den „Jahrmarkt“. Statt einfacher Menschen begafft ihn jetzt die britische Schickeria. Treves ist sich des menschlichen Makels bewusst und möchte seinen Patienten so gut wie möglich schützen, alleine, die Umsetzung will nicht einwandfrei gelingen. Dr. Treves kämpft gegen Windmühlen.
Den moralischen Diskurs intensiviert die Inszenierung mit den Szenen rund um den Porter (Josef Kocher), der seine Freunde gegen Entgelt ins Zimmer von John Merrick lässt. Hier wird ein Mensch wie im Zoo bestaunt und alsbald wird die Meute übergriffig. Aber wehe, wer sich hier moralisch erhaben fühlen möchte. Denn, und das ist das perfide am ELEFANTENMENSCHEN, so richtig ohne Schuld ist niemand. Selbst Merrick verwickelt sich in eine rein hypothetische Abhandlung über das Anderssein, wenn er mit der Schauspielerin über „richtige“ Frauen spricht. Mrs. Kendall (Kirstin Henkel) jedenfalls widmet sich der Diskussion mit Verve und klugen Argumenten – muss schließlich aber ebenfalls kapitulieren. Ein philosophischer Diskurs mit so zahlreichen Facetten, die trotz kluger Ansätze auch an diesem Abend nicht zu lösen sein wird.
Gedankenanregend ist diese durchdachte und integrative Inszenierung allerdings zu jeder Zeit – und umso spannender, weil jetzt die vielleicht manchmal Bestaunten selbst zu Bestaunern werden und der Gesellschaft subtil ihr Spiegelbild präsentiert.
Fotonachweis: Foto Flausen
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