BLICK ÜBER DEN WELTEN-RAND.
INTAKTE BEWOHNER DESOLATER STÄDTE stellt das Weltbild seines Publikums mit recycelten Vorstellungen und dadaistischen Gesprächsanleihen auf den Kopf.
Das ist er also. Dieser Moment, auf den ich seit pi mal Daumen acht Jahren warte. Damals hörte ich in einer Vorlesung zum erste Mal davon, dem Nasen-Phallozentrismus. Das Wort blieb hängen. Dieser seltsam heitere Begriff lässt sich nicht nur hervorragend drehen und wenden, sondern hat auch etwas mit davonlaufenden Riechorganen zu tun. In INTAKTE BEWOHNER DESOLATER STÄDTE, der Koveranstaltung der ARGEkultur mit ohnetitel und Christoph Bochdansky in Koproduktion mit dem Schubert Theater Wien, türmen die Nasen ebenfalls, allerdings fliegender Weise. Überhaupt saust hier so einiges über die Bühne, auch Ohren, verschwundene Luftnummern oder Meeresungeheuer.
In aller Plot-Kürze
Zwei alternde Taschentrickspieler und eine glamouröse Impressaria mit Hang zu gliedmaßenfreien Paradiesvögeln wechseln sich auf der Bühne mit Landkarten und allerlei anderen merkwürdigen Wesen ab.
Weltenfrust
Es ist kein Euphemismus, dass INTAKTE BEWOHNER DESOLATER STÄDTE sehr viel Raum für Interpretation lässt. Das liegt am ephemeren Charakter des melancholischen Varieté-Geschehens. Übrigens wird das sehr passend von einer morbiden Clownsfigur eingeleitet, die nebenbei das fragwürdige Phänomen der Horror-Clowns wieder aufgreift und mit dem 19. Jahrhundert durch den Mixer jagt. Aus der runden, hässlichen Figur schält sich im Anschluss allerdings ganz schmetterlingsgleich die elegante Diva (Dorit Ehlers). Die glamouröse Figur wird zum Marvin des Varieté. Statt eines blechernen „I think you ought to know I am feeling very depressed“ wie im Hitchhiker’s Guide tönt es allerdings sehr menschlich deprimiert. Zumindest hinter der Bühne. Davor läuft die mysteriöse Impressaria zu leidenschaftlich besessenen Paradiesvogel-Exkursen auf (Bühnenbild: Arthur Zgubic, Alois Ellmauer).
Landkarten-Obsession
INTAKTE BEWOHNER DESOLATER STÄDTE ist eine Absage an die Welt. Eine Dekonstruktion von Anfang bis Ende, gepflastert mit den unterschiedlichsten (historischen) Landkarten. Und doch scheint die Produktion gerade auf ihre eigene Weise auch eine melancholische Liebeserklärung an den Erdball zu sein. Die Bühne fügt sich nahtlos in das merkwürdig andere Bild ein, hier wird noch von Hand verschoben. Mindestens genauso durchschaubar wie die Artifizialität der Kulisse gestalten sich die Zaubernummern der alternden Taschentrickspieler (Thomas Beck & Christoph Bochdansky). Gerade durch ihre absolute Enttarnung und Persiflierung grenzen ihre Vorführungen aber wieder an Kunst. Zwischendurch sinnentleertes Geplänkel mit Dada-Ambitionen, das zeitverzögert doch wieder Sinn erhält. Freilich dürfen, nein, müssen die eigenen grauen Zellen dafür emsig rattern.
Nicht stolpern
Was heutzutage höchstens noch unter den Betten kleiner Kinder haust, tummelt sich neuerdings auf der Bühne in der ARGEkultur. Seeungeheuer aus den Überlieferungen alter Legenden und Landkarten treffen sich zum heiteren Fangen-Spiel (Kostüm: Hilde Böhm, Lili Pfeiffer), Puppen-Alter-Egos geben sich ein humoriges Stelldichein (Puppenbau: Christoph Bochdansky, Puppenspiel: die zwei alternden Taschentrickspieler). Bald schwirrt der Kopf und tanzen die Sinne. Im Untertitel trägt die Produktion den Verweis „Eine bizarre Reise ans andere Ende der Welt“. Dem sei aus vollem Herzen zugestimmt. Gleichzeitig birgt die konsequent andere Inszenierung eine spannende Komponente, die eine gewisse Faszination birgt. Das Publikum begibt sich auf eine Reise vom Mittelpunkt der Welt bis zu ihrem Ende. Das man (und frau) dabei nicht über den Rand stolpert, obliegt jedem*jeder allerdings selbst.
Fotonachweis: Wolfgang Lienbacher
by